Texte / Rezensionen

Bärenmädchen | Bear Girls

Ute Behrend im Gespräch mit Barbara Hofmann-Johnson

Innerhalb ihrer künstlerischen Arbeit mit dem Medium Fotografie und Film lotet Ute Behrend mit atmosphärisch wie ästhetisch subtilem Gefühl für poetische und formale Zusammenhänge eigene Erzählwelten aus. Einem bildnerischen Konzept folgend, bei dem stets zwei Bilder aus unterschiedlichen Wirklichkeits- und bisweilen auch inszenierten Zusammenhängen narrativ einander zugeordnet werdenen,schaffen diese Bezüge zu Themen wie Portrait, Natur oder deuten auf reduzierte Weise kulturelle Referenzen an. In ihrer aktuellen Bildserie „Bärenmädchen“, die in dieser Publikation vorgestellt wird, behandelt die in Köln lebende Künstlerin in der ihr eigenen assoziativen Gestaltungsweise das Themenfeld weiblicher Adoleszenz. Als Gegenentwurf zu den durch Gesellschaft und Medien geprägten Stereotypen sexualisierter Identifikation bewegen sich die „Bärenmädchen“ von Ute Behrend in einem archetypisch an der Natur orientierten Umfeld und Schutzraum, der sie isoliert und dabei poetisch zeitlos im Vergleich zu den gängigen Mustern der Sozialisation erscheinen lässt. In einem Gespräch beschreibt sie ihre neue Werkgruppe.


Barbara Hofmann-Johnson: Mit der in dieser Publikation vorgestellten Werkgruppe „Bärenmädchen“, setzt Du einmal mehr Dein fotografisches Konzept von dialogisch einander zugeordneten Bildpaaren fort, die unterschiedliche Ausschnitte aus Umgebungen und Weltzusammenhängen miteinander in eine erzählerisch atmosphärische Beziehung setzen. Welche Idee verfolgst Du mit der aktuellen Serie der „Bärenmädchen“?

Ute Behrend: In meinen früheren Projekten habe ich viel in meinem direkten Umfeld fotografiert. Als meine Töchter anfingen, erwachsen zu werden, wurde das Thema Adoleszenz auch für meine künstlerische Arbeit immer interessanter.
Ich kannte schon einige Arbeiten zu diesem Thema und dachte, dass man es irgendwie anders machen müsste, als nur schöne junge Menschen und vielleicht noch zusätzlich deren Lebensräume zu fotografieren.
Meine Töchter verhielten sich entgegen der gängigen Klischees weitgehend ‚normal‘. Auffallend war, dass sie sich für den Kleiderschrank ihres Vaters interessierten. Speziell die großen Pullover hatten es ihnen angetan und sie kauften sich seltsamerweise Babynahrung in Gläschen, die sie dann mit ihren Freundinnen auslöffelten. Ich erinnerte mich daran, dass dies bei mir auch so gewesen war.
Es gab auch andere Mädchen in unserem Bekanntenkreis. Solche, die sich der Herausforderung des Erwachsenwerdens gerne stellten, sich sehr intensiv mit ihrer weiblichen Attraktivität beschäftigten und sich provozierend sexy anzogen. Dabei war ihnen nicht eine Sekunde lang bewusst, dass sie eine sexuelle Attraktion darstellten. Die Literatur ist voll von solchen Mädchen. Nabokovs Lolita ist nur ein Beispiel. Auch das Fernsehen verwendet das Klischee von jungen Mädchen gerne und häufig. Eigentlich tauchen diese Mädchen ständig in allen möglichen Kontexten auf. Immer hat es mit Begehren zu tun, oft mit der Möglichkeit, Geld zu verdienen, selten mit den Mädchen selbst. Ich fand dies in der extremen Form zwar erwähnenswert, aber doch eher uninteressant, weil es eben schon so oft dargestellt wurde.
Viel interessanter fand ich, wie die mir bekannten Mädchen, die in den riesigen Pullovern, sich reflexhaft von sexualisierten Verhaltensweisen distanzierten und dem Druck, der durch die Medien, die Werbeindustrie oder Mitschülerinnen auf sie ausgeübt wurde, auswichen.
Mir fiel ein Buch von John Irving ein. Hotel New Hampshire. Dort gibt es eine junge Frau, die sich nach einer Vergewaltigung in ein Bärenfell kleidet, um nicht gesehen zu werden. Das Fell beschützt sie und sie bekommt den Freiraum, den sie braucht, um sich in ihrer Einzigartigkeit zu entfalten und das schreckliche Erlebnis zu verarbeiten.
Barbara Kerr hat in „Smart Girls, Gifted Women“ 1 die Gemeinsamkeiten von Mädchen untersucht, aus denen später starke Frauen wurden. Sie stellte fest, dass alle Mädchen Zeit für sich selbst gehabt hatten, sowie die Fähigkeit, sich in eine Idee zu verlieben, und dass sie eine „schützende Hülle“ besaßen. Keine war besonders beliebt und die meisten von ihnen blieben in ihrer Altersgruppe relativ isoliert, nicht, weil sie es wollten, sondern weil sie abgelehnt wurden. Interessanterweise erhielten sie genau durch diese Ablehnung einen Freiraum, in dem sie ihre Einzigartigkeit entfalten konnten.
Ich habe das Motiv des Bärenfells aufgegriffen und in einem fiktiven Indianerstamm in Kanada wiederauftauchen lassen. Dort werden die heranwachsenden Mädchen in große Bärenfelle gekleidet, um sie zu schützen und ihnen einen Freiraum für ihre persönliche Entwicklung zu geben.

1 Mary Pipher: Pubertätskrisen junger Mädchen, FISCHER Taschenbuch, 2003, Frankfurt am Main

BHJ: Du arbeitest wie erwähnt bei der Serie mit assoziativ einander zugeordneten Bildpaaren, die motivisch unterschiedliche Inhalte erkennen lassen. Manchmal erscheinen sie deutlicher, manchmal aber auch ohne direkte Bezüge zum Titel der Bildserie. Könntest Du Deine Arbeitsweise, die Auswahl der Bilder und Zuordnungsprozesse beschreiben? Sind die Aufnahmen bewusst für diese neue Bilderserie entstanden oder erst später für das Projekt ausgewählt worden?

UB: In meinen Fotografien halte ich Augenblicke entweder spontan fest oder recherchiere vorab und inszeniere Situationen gezielt. Ich arbeite immer mit einem vorgegebenen Thema. Dinge, die ich sehe oder Szenen, die ich erlebe, erinnern mich an Bilder in meinem Gedächtnis. Es gibt immer wieder Ähnlichkeiten, die sich in anderen Kontexten und Ausprägungen wiederholen. Die Bilder kann ich bei mir zu Hause oder an weit entfernten Orten finden. Viele der jungen Frauen, die ich für diese Arbeit fotografiert habe, kenne ich schon lange. Ich habe nach Orten gesucht, die in meiner Vorstellung zu den Mädchen passten. Andere Mädchen habe ich angesprochen, wo sie mir begegnet sind, und ich habe direkt dort ein Foto gemacht. Alle Bilder sind nur für diese Arbeit gemacht worden. Auch alle Naturaufnahmen. Die fertigen Fotografien kommen dann in einen Pool und werden von mir zu Bildpaaren zusammengefügt. Sie müssen sich noch eine Weile bewähren, bevor sie wirklich in die Arbeit integriert werden. Manchmal nur einen Tag, manchmal mehrere Wochen. Ich fotografiere von Anfang an so, dass die Bilder in Paarungen funktionieren. Das perfekte Einzelbild ist für mich, wie in den meisten meiner Arbeiten, unwichtig. Wichtiger ist das Potenzial des Bildes: die Energie und die Kraft, die das Bild hat, um zusammen mit einem zweiten Bild einen neuen Aspekt, eine andere Perspektive in der gesamten Arbeit aufzuzeigen.

BHJ: Betrachtest Du die einzelnen Bildpaare unabhängig voneinander, oder sollen sie insgesamt, wie eine filmische Sequenz, betrachtet werden? Gibt es einen narrativen Spannungsbogen, der die Lesart der Serie andeuten soll?

UB: Beides ist möglich. Es gibt einen narrativen Spannungsbogen und die Lesart ist durch das Buch ja schon vorgegeben. Aber ich würde es nicht mit einer filmischen Sequenz vergleichen. Eher würde ich mich mit SchriftstellerInnen vergleichen, die mit Variationen eines Themas arbeiten. Es gibt einen roten Faden und durch verschiedene Subthemen wird die Handlung neu beleuchtet und weitererzählt. Mir fällt Annie Proulx ein. Sie hat mit Hilfe eines grünen Akkordeons, das von Familie zu Familie weitergereicht wird, die Einwanderungsgeschichte Amerikas erzählt. Oder Giovanni Boccaccio mit dem Decameron. So wie die Geschichten im Decameron sind auch die einzelnen Bildpaare bei mir für sich lesbar.

BHJ: Die inhaltlichen Schwerpunkte der Bildkombinationen verbinden weitgehend Momente der Natur mit den Portraits der unterschiedlichen Mädchen oder auch Momente der Natur mit Tieren, die wie in Fabeln oder Märchen zu Stellvertretern für menschliche Eigenschaften und existentielle Verläufe zu werden scheinen. Wie siehst Du die einzelnen Tiere, die in der Serie zu Bildinhalten werden? Welche Eigenschaften hat der Bär als zentrales Motiv der Serie?

UB: In erster Linie sind es wilde Tiere, die ich fotografiert habe. Tiere die man, wenn überhaupt, in der Natur nur aus großer Entfernung sehen kann. Wenn wir sie tatsächlich sehen, sind sie sehr weit entfernt, also in der Abbildung eher klein. In unserer Vorstellungswelt aber sind sie so groß, als ob sie direkt vor uns stehen würden. Ein Teleobjektiv hätte diese Darstellung reproduzieren können, es wäre aber nicht die Form von Realität gewesen, die mich interessiert. Mich fasziniert die Wildheit und Freiheit dieser Tiere. Aus gutem Grund nähern sie sich dem Menschen nur auf sehr große Distanz. Viele von ihnen sind stark gefährdet. Sie sind ein wenig wie die Mädchen, von denen ich erzähle. Sie sind wild und frei und sollten aufpassen, dass sie nicht gefangen werden. Man kann sie nur aus der Ferne sehen, nicht besitzen und sie brauchen unseren Schutz.
Das einzige Tier, welches in der Arbeit größer abgebildet wird, ist der Bär. Der Bär hat in der Mythologie eine besondere Bedeutung. Er ist das größte an Land lebende Raubtier und hat die Menschen schon immer beeindruckt. Er taucht bereits in Höhlenmalereien auf und existiert als Sternbild am Himmel, und er gilt als König der Wälder. Als Sohlengänger sind Menschen dem Bären sehr ähnlich. Es macht also für Menschen in gewisser Weise Sinn, sich als Bär zu tarnen.
Bei den griechischen Göttern wird Artemis, die Göttin der Jagd, manchmal als Bärin dargestellt. Sie ist die Beschützerin der wilden Tiere, der Frauen und Kinder und der Schwangeren. Der Sage nach konnte sie sich in eine Bärin verwandeln. In Brauron, einem Ort in der Nähe von Athen, steht der Tempel der Artemis. Dort hatten zwei Brüder eine heilige Bärin getötet. Aus Zorn darüber schickte Artemis die Pest nach Athen. Die Göttin verlangte von den Athenern, dass sie ihr alle jungen Mädchen brachten. Fünf Jahre sollten sie ihr dienen. Artemis war eine jungfräuliche Göttin und ihre Dienerinnen mussten ebenfalls jungfräulich sein. „Die Mädchen wurden die kleinen Bärinnen genannt. Sie trugen Bärenfelle, wuschen und pflegten sich nicht und benahmen sich ‚wie die Wilden‘“ 2.

2 http://www.traum-symbolika.com/das-traumlabor-wozu/matrizentrierte-mythologie, [18.07.2018]; Marie-Louise von Franz (BN 1369, 55-56)

Eine andere Variante der Geschichte erzählt, dass Artemis ihre Gespielinnen in Bärenfelle kleidete, damit sie nicht von Männern gesehen werden konnten. Sie hatte Angst davor, ihre Freundinnen an diese zu verlieren. Wenn sie mit einem Mann zusammen gewesen waren, wurden sie aus dem Tempel verstoßen. Ob dies nun freiwillig geschah oder nicht, spielte dabei keine Rolle. Davon erzählt die Geschichte der Kallisto, einer Nymphe der Artemis. Sie wurde von Zeus vergewaltigt und aus dem Tempel vertrieben, als herauskam, dass sie schwanger war. Sie gebar das ungewollte Kind und Hera, die Frau von Zeus, wurde neidisch und verwandelte sie in eine Bärin. Als Kallisto ihren Sohn nach 15 Jahren wiederfand und ihn umarmen wollte, wollte dieser sie töten. Sie war ja eine Bärin und er erkannte sie nicht. Zeus verhinderte dies, indem er beide als Sternbilder an den Himmel bannte. Leider war das Bärenfell für Kallisto nicht Tarnung genug. Zeus hatte ihre Schönheit trotzdem gesehen, und benutzte seine Macht, um sie zu besitzen.
Im Märchen „Allerleirau“ zieht sich eine junge Königstochter ein Fell von vielen verschiedenen Tieren über, um vor dem sexuellen Begehren ihres Vaters zu fliehen. Sie findet Unterschlupf in einem Schloss, wo sie als Küchenmädchen arbeiten kann und einen Verschlag unter einer Treppe bewohnt. In einem Hin und Her zwischen Sich-Zeigen, anonymer Schönheit und Verstecken unter dem schützenden Mantel schafft sie es, das Herz des Königs zu gewinnen und ist in Sicherheit. Erst da, und eigentlich auch unfreiwillig, verlässt sie die Anonymität. Es heißt dort: „Der König fasste den Mantel und riss ihn ab. Da kamen die goldenen Haare hervor, und sie stand da in voller Pracht und konnte sich nicht mehr verbergen.“ Das angelegte Bärenfell ist als Schutzidentität zu sehen. Nicht als Initiationsritus. Und sich als Schutzidentität das größte und gefährlichste auszusuchen, ist daher durchaus sinnvoll. Durch das Bärenkostüm wird Susie, der Bär, in John Irvings Roman „Hotel New Hampshire“ zu einer Täterin. Sie ist kein Opfer mehr. Durch die konstruierte Identität einer Bärin wird Susie handlungsfähig und ist ihren traumatischen Erlebnissen nicht mehr nur ausgeliefert. Das erinnert wiederum an die Suche nach einer verlässlichen Identität in der Adoleszenz. In dieser Zeit kann es oft zu Rollenverwirrungen kommen. Selbstdefinition ist dabei nicht nur für Jugendliche schwierig.

BHJ: Einer eindeutigen „Selbstdefinition“, wie Du es formulierst, setzt Du mit Deiner künstlerischen Vorgehensweise dialogisch und assoziativ einander zugeordneter Bildpaare ein offenes Wahrnehmungsmodell entgegen. Als ästhetisches Konstrukt stellt es Bezüge zu unterschiedlichen Erzähl- und Realitätsebenen her oder zeigt formal-ästhetische Parallelen innerhalb unabhängig voneinander betrachteter Realitätsverweise. Manchmal basieren die Fotografien auch auf Inszenierungen und suggerieren dennoch mit ihrer dokumentarischen Bildsprache im Sinne Roland Barthes ein authentisch „so Gewesenes“, wobei die Bezüge Deiner Bildpaare das Reale mit der Inszenierung vermischen und so eigene Welten schaffen. Neben einer sachlich wirkenden Beobachtung, die stets unprätentiös poetisch erzählt, ist es das, was sicherlich den Reiz Deiner Bildwelten ausmacht. Welche Bedeutung hat für Dich die Fotografie als Medium?

UB: Das Realitätsversprechen der Fotografie war für mich schon immer der eigentliche Antrieb. Dabei hat mich nie interessiert, ob etwas wirklich so gewesen ist. Allein die Behauptung macht für mich die Qualität eines Bildes aus. Ich mag den besonderen Moment. Wenn man etwas sieht, und die Zeit für einen Augenblick still zu stehen scheint. Ich werde nie aufhören, diese Momente zu suchen und zu fotografieren. Bei der Betrachtung dieser „Momentbilder“ fehlte mir aber oft etwas. Der Teil, der das Bild in meinem Kopf zu etwas Besonderem werden ließ. Durch die Bildpaare kann ich diese Lücke schließen. Das Arbeiten ist intuitiver, und die Bilder bekommen eine erzählerische Dimension, ohne dass ich das Realitätsversprechen der Fotografie aufheben muss. Durch diese Art von „konstruierter“ Wirklichkeit bekommen die Bilder die Energie, die mich an Kunst interessiert.
Es ist ein bisschen so, wie Max Ernst es einmal gesagt hat, als er die Collage erklärte: „Collage-Technik ist die systematische Ausbeutung des zufälligen oder künstlich provozierten Zusammentreffens von zwei oder mehr wesensfremden Realitäten auf einer augenscheinlich dazu ungeeigneten Ebene – und der Funke Poesie, welcher bei der Annäherung dieser Realitäten überspringt.“ 3

3 Oskar Negt: Überlebensglück, Steidel Verlag, 2016, Göttingen

Dies lässt sich, je nach Ansatz, auch auf andere künstlerische Techniken übertragen. Auf Dichtung, Literatur, Malerei, Filmkunst und Fotografie.
Aber vor allem gilt: Eine gute Geschichte ist eine gut erzählte Geschichte.

 

Barbara Hofmann-Johnson studierte Kunstgeschichte, Germanistik und Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften in Köln und leitet seit 2016 das Museum für Photographie Braunschweig. Mit Ute Behrend hat sie in den vergangenen Jahren bei verschiedenen Ausstellungsprojekten zusammengearbeitet.

 


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