Texte / Rezensionen

Christoph Ribbat
Eins ist die einsamste Nummer

»In der Fotografie«, sagt Jeff Wall, trete »die wortlose, anonyme Poesie der Welt zuerst, ja wahrscheinlich zum allerersten Mal zu Tage.« Ihre Schönheit wurzle »in der großen Collage, als die sich das tägliche Leben darstellt: jene[r] Kombination völlig konkreter und spezifischer Dinge, die, von allen und niemandem geschaffen, greifbar werden, sobald sie sich zu einem Bild fügen.« 1

Er hat recht, tatsächlich. Die »wortlose, anonyme Poesie«, die »große Collage«, all die »konkrete[n] und spezifische[n] Dinge«: Von ihnen handelt, aus ihnen entsteht – einzigartig, süchtig machend, lässig, mächtig, improvisiert – die Fotografie. Und von ihnen handelt, aus ihnen entsteht das Fotobuch, diese magische Mischung aus Film, Roman und Familienalbum, die wir jetzt erst so richtig zu würdigen wissen.2

Seltsam ist es nur, daran zu glauben, dass sich die Dinge, Räume und Gesichter des täglichen Lebens, wie Wall es sagt, zu genau »einem Bild fügen« könnten. Noch bemerkenswerter ist, dass sich in der zeitgenössischen Fotokunst eine so bedeutende Strömung weg bewegt hat vom fantastischen Charme der Bild-Erzählung und sich eher für nüchterne Solitäre an der Wand interessiert und für eine Perspektive aus der sicheren Distanz. Gerade die prominen­testen, mit Geld und Ruhm am meisten überhäuften Fotografen neigen zum aristokratischen Minimalismus. Sie arbeiten am aufgeräumten, gigantischen Einzelbild, das hervorragend in aufgeräumte, gigantische Museen passt. Oder sie widmen sich der systematischen Reihe. Das Einzelne wird als, hmpfh, Phänotyp konstruiert, der in der Serie hervortritt: Einkaufszentrum, Bibliothek, immer aus dem gleichen Blickwinkel, immer im gleichen Licht. Auch Jeff Wall schließlich traut dem von ihm gepriesenen Zufall nicht über den Weg und inszeniert seine Tableaus lieber selbst. So schafft er von ihm selbst angeordnete Unordnung, inklusive jener konkreten Dinge und ihrer wortlosen Poesie.

Erstaunlich ist all dies, weil sich solche künstlerischen Praktiken eindeutig ab­setzen von der anderen, der alltäglichen Schnappschusswelt der Foto­grafie. Sie entfernen sich, möglicherweise bewusst, von uns, den Laien, die foto­grafische Bilder eher selten als einzelne Prachtexemplare wahrnehmen und ihnen zumeist als Paaren, Gruppen, Haufen begegnen: à la vorher-nachher, hier-war-ich-dort-und-da-war-ich-da, guck-mal-dies-an-und-jetzt-guck-mal-das.

Vielleicht erschrecken diese freilaufenden Bilderherden manch fotografierenden Künstler, weil sie die Sauberkeit seiner Methode gefährden. Im Alltag trifft das Simple auf das Dekorative. Das Zarte begegnet dem Gefährlichen. Das Wider­liche verschränkt sich mit dem Süßen. Im Alltag ergeben Bilder Geschichten. Sie haben feste Bedeutungen. Sie haben symbolische Kraft. Das ist schwierig zu ertragen, wenn man jemand ist, der das fotografische Bild als geheimnis­volle Monade begreift, die, schweigsam und perfekt, nichts um sich braucht als leeren Raum (und davon reichlich).

Ute Behrends Arbeiten sind allerdings anders. Sie kommen zu zweit. Immer zu zweit. Das, was man sieht und das, was es bedeuten könnte: Behrend legt beides in ihre Bilderserien hinein, statt es sorgsam auseinander zu sezieren. Sie hat weder vor Unordnung Angst noch vor Dekoration, Ornament, Kinder­augen, rosa Blüten, türkisen Morgenmänteln, Gummibäumen, gepiercten Brustwarzen, Rottweilern, Blutlachen. Sie fotografiert im Privaten, aber es ist ein undefinierbares Privates, in einer Zeit circa heute, in einem Raum zwischen Großstadt und Umland und Urlaub, einer Generation zwischen Jugend­lichkeit und der Mitte des Lebens. Der Blick schwankt immer zwischen dem einen und dem anderen Bild. Er vergleicht, kontrastiert, vermengt. So entstehen Minigeschichten, die links beginnen und rechts enden oder rechts beginnen und links enden. Oder zu längeren Geschichten werden, über mehrere Bilder hinweg – zu Geschichten, die Zweige treiben, Blätter, Blüten.

Bloß keine Geschichten, bloß keine Pflanzen, sagen dann die kühlsten Minimalisten. Bloß kein Minimalismus, sagt sich Ute Behrend. Gewucher muss man aushalten. Photosyn­these, 6 CO2 + 6 H²O → C6H12O6 + 6 O2, das Umwandeln von Licht in Grünzeug, das sich dann über die Flächen legt und durch die Leere wächst: Keiner kann so tun, als gehöre das nicht zur »großen Collage«. Deshalb ist Eins die einsamste Nummer, tatsächlich, weil sie der Unordnung nicht gerecht wird. Ein Bild wäre zu wenig, eine typologische Serie zu streng, eine Inszenierung zu klinisch.

Die Kraft dieses Ansatzes belegt auch Ute Behrends Videokunst, stets zweigespalten, wie ihre fotografischen Arbeiten. Zu Beginn ihres Videos »Mermaids« etwa strahlt im linken Bild die Sonne durch ein Loch in den bleiernen Wolken und im rechten singt eine Frau vor einer nackten Wand einen Harry Warden/Mack Gordon-Song, den man quasi nur von Chet Baker kennt (»…the more I see you, the more I want you / Somehow this feeling just grows and grows…«) und vielleicht weil diese Frau das so gut, aber unprätentiös singt, fast so unprätentiös wie Chet Baker selbst, und weil die Sonne wirklich manchmal so durch das Grau sticht, man weiß es ja selbst, und weil über die Tonspur noch das Meer rauscht und erst Kinderstimmen irgendetwas besprechen und sich dann entfernen, und weil plötzlich ein Vogel vor den Wolken durch das Bild fliegt und dann nicht mehr da ist, weil all das so ist, scheint es für einen Moment so, als würde es nichts geben außer diesen Wolken, dem Rauschen, diesem Licht, und dem Lied, wie es gesungen wird, und dem Lied, wie man es erinnert, und dem Vogel im Flug und dem geflogenen Vogel und den Stimmen und der Stille danach.

Und hier wird klar: Der wahre Purismus ist der, der den noise mit aufnimmt. Der also das, was wir jetzt sehen, genauso zeigt wie das, was wir erinnern: die Stimme und das Rauschen, den Augenblick und sein Feedback. Ute Behrends fotografische Reihen machen das haptisch erfahrbar, legen diese Kom­bi­nationen in deine Hände, im Fotobuch, dem Speicher schlechthin für das, ­was Jeff Wall »anonyme Poesie« nennt. Schau nach rechts. Schau nach links. One is the loneliest number that you’ll ever do.3


1 Zitiert in: Kaja Silverman, »Totale Sichtbarkeit«. Jeff Wall: Photographs. Köln 2003. S. 97–117; hier S. 111.
2 Vgl.: Martin Parr und Gerry Badger, The Photobook: A History, Vol. I & II. London 2004/2006; Andrew Roth, ed., The Book of 101 Books: Seminal Photographic Books of the Twentieth Century. New York 2001.
3 Aimée Mann, »One«. Magnolia: Soundtrack. Warner, 2000. CD (Text & Musik: Harry Edward Nilsson, 1968).


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