Texte / Rezensionen

… nichts als des Schrecklichen Anfang

Dr. Kerstin Stremmel
Zimmerpflanzen von Ute Behrend

Der Titel von Ute Behrends Werkgruppe und ihrem gleichnamigen Buch könnte eine Anleitung zur sorgsamen Begrünung der Lebenswelt sein, ein Kompendium für üppig Blühendes. Zimmerpflanzen lassen sich, auch wenn die Zeiten der Orangerien vorbei sind, durchaus unter soziologischen Aspekten betrachten, selbst in Gartenfibeln ist davon die Rede, dass in den 1980er und 1990er Jahren angesichts der zunehmenden Umweltzer­störung die Innenraumbegrünung immer stärker in das Interesse rückte. Eine Flucht­bewegung wird also, möglicherweise, angedeutet. Sie scheint selten zu gelingen, die Untertöne stimmen skeptisch, eine Geigenfeige wirkt ähnlich aggressiv wie der Rottweiler auf dem Bild nebenan, der Umgang mit den Pflanzen ist nicht immer liebevoll, sondern erzählt von Ver­nach­lässigung (vertrocknete Palme) oder heilloser Geschmacks­verirrung (Chrysanthemen): Mitsamt ihren kleinen Plastiktöpfen wurden diese Blumen so in Hydrokulturen versenkt, dass sie wie Ertrinkende wirken.

Tatsächlich handelt es sich um eine Anleitung zum Sehen. Mit einem Blick ist es bei den Bildern, auf denen liebliche Motive, wie zartrosafarbene Blüten mit gelblich-grünem, fast phosphoreszierend wirkendem Blütenstand selten sind, nicht getan. Grund dafür ist unter anderem Behrends konsequente Entscheidung für Bildpaare, das eine Foto kommentiert oder konterkariert das andere, neben farblichen Korrespondenzen gibt es inhaltliche Bezüge, mitunter der drastischen Art.

Einer Sommerblumenwiese ist die Aufnahme zweier Pylonen zugeordnet, zwischen denen, unter einer dunklen Plane, Blut über den gepflasterten Boden läuft. Dass die Plaster­steine zudem wie in Kreuzform angeordnet sind, wird durch den gewählten Bildausschnitt betont. Das Blumenmotiv daneben bekommt durch diese ohnehin bereits als Einzelbild assoziationsstiftende Straßenszene eine gänzlich andere Dimension, versucht der Betrachter jetzt im Gegenblick das Gewirr der Pflanzen zu durchdringen, das auf einmal etwas Unheimliches bekommen hat, man denkt an die vorgeblich heile Oberfläche der Welt in David-Lynch-Filmen, unter der es brodelt, daran, wie in der Idylle das Umheimliche lauert und dass das Schöne manchmal nur des Schrecklichen Anfang ist. Bilder wie dieses machen deutlich, wie weit entfernt von Schnapp­schüssen ihre konzeptuelle Herangehens­weise ist; für die Motive, die vom Polizeialltag erzählen, waren, wie bei anderen Sujets auch, Recherchen nötig, um bestimmten Phänomenen auf den Grund zu gehen, von denen viele von uns nur die Überschriften in der Boulevardpresse zur Kenntnis nehmen.

Dieses Gefühl, dass hinter Fassaden der Abgrund lauern kann, wird durch die Mischung von Innen- und Außenaufnahmen verstärkt: eine blumengemusterte Gardine legt sich wie ein Schleier vor den Blick aufs Grün draußen, die oberen zwei Drittel des Bildes werden durch einen orangefarbenen Vorhang gänzlich verdeckt. Das Fenster ist nicht mehr das Fenster zur Welt, sondern verweist den Betrachter auf sich selbst zurück und verstärkt die Wirkung des zweiten Bildes, dessen Szenario in der Schwebe bleibt: Scheint der in der Hüfte abgestützte Arm der Frau einerseits Selbstbewusstsein auszudrücken, so ist der Griff des Mannes, dessen Hand den schmalen Oberarm umschließt, zu fest, um wie eine zärtliche Geste zu wirken – im Verborgenen blüht nicht die Idylle, sondern auch Gewalt und Aggression. Behrend macht sich bei Polizeieinsätzen und Sexmessen auf die Suche, findet Bedrohung oder zumindest Befremdliches aber auch in weniger klar einzuordnenden Situationen. Selbst der Blick auf ein Baum­haus, dessen einziger Zugang eine viel zu kleine Leiter zu sein scheint, kann  neben dem Torso einer Frau (Frau in rotem Kleid mit grünem Ballon) wie ein hermetisches Versteck wirken, unsere Lektüren können auch die Bildlektüre prägen, und es macht die Qualität der Arbeiten aus, dass die Schlussfolger­ungen jedem einzelnen Betrachter überlassen werden.

Manchmal entsteht auf diese Weise eine mit Wirklichkeit durchsetzte Poesie, die jenen vertraut ist, die Ute Behrends Werk kennen. Bereits in der Serie »Märchen«, in der auch klassische Märcheningredienzien wie Fliegenpilze, Wald­lichtungen, Spinnräder, Bären und Rehe auftauchen, verabschiedet Behrend das Realitäts­prinzip der Fotografie auf originelle Weise: Nichts ist nur was es scheint, die Fotografie ist zwar eine Spur des Dagewesenen, zugleich eröffnet sich ein Spiel mit Gesten und Erinnerungen über das hinaus, was vor der Kamera zu sehen war. Und all das geschieht ohne pompöse Inszenierungen, im Vertrauen auf ein Erinnerungsvermögen, das nicht nur im kindlichen Repertoire abrufbar ist. Es appelliert an Erfahrung, die beim Betrachten der Bilder körperlich spürbar wird: das Gefühl kopfüber zu hängen, während man sicher gehalten wird, Unbehagen beim Durchstreifen dichten Gebüschs, der Geschmack der Walderd­beeren, die direkt neben gefährlichen Fliegen­pilzen zu sehen sind, alles kann Anlass für Geschichten werden, die sich an Details entspinnen.

Kürzlich begegnete mir das Wort »thigmotropism«: »Thigmotropism is the directional response of a plant organ to touch or physical contact with a solid object. This directional response is generally caused by the induction of some pattern of differential growth.« Etwas Ähnliches passiert bei Ute Behrends
sorgsam zusammengestellten »Zimmerpflanzen«: Sie verändern sich beim Kontakt, jede Doppelung produziert neue Deutungen, die zwingend erscheinen, und beim nächsten Betrachten, je nach Disposi­tion, eine andere Wendung nehmen können. Diese Offenheit ist kein Einwand gegen die Suggestiv­kraft der Kombi­nationen, sondern Ausdruck einer Heran­gehens­­weise, die von der Bandbreite fotografischer Weltbezüge profitiert. Und so darf es zwischendurch auch Bilder wie jenes der Eisblumen am Fenster geben. Neben klirrender Kälte erzeugen sie eine Schönheit, die sich auf überraschende Art im Kleid des
kleinen Mädchens auf dem Bild nebenan spiegelt. Sehr haptisch ist das einander sinnlich und inhaltlich ergänzende Bildpaar, man spürt die Strukturen der Eisblumen und erinnert sich möglicher­weise an das Gefühl, mit der Haut leicht hängenzubleiben, während man die Muster mit dem Finger nachzieht, und genauso versteht man, warum das Mädchen unter ihrem eisblumen­blauen Polyesterkleid ein Baumwoll­shirt trägt. Ute Behrends unsentimentaler Blick geht den Dingen auf den Grund, und manche Sujets scheinen da zu sein, damit sie sie in ihren Bildern wiederfindet.


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